Geschichtlich betrachtet gilt als Gründerzeit insbesondere die Zeit zwischen 1850 und 1873, als Deutschland einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Es kam dank der Erfindung der Dampfmaschine zur Industrialisierung und damit zu zahlreichen Unternehmensgründungen.
Diese erlebten ihren Höhepunkt nicht zuletzt durch die französischen Reparationszahlungen in Folge des Deutsch-Französischen Kriegs zwischen 1871 -1873, im Anschluss an die Gründung des Deutschen Reichs. Allein in diesen zwei Jahren wurden über 900 Aktiengesellschaften gegründet, während es zwischen 1867 und 1870 noch nicht einmal 100 waren.
Die Gründerzeit war die Zeit des Bürgertums: Es erlangte einen nie zuvor erlebten Wohlstand und prägte von nun an das kulturelle Leben. Das gesteigerte Selbstbewusstsein schlug sich nieder in einem Drang nach Selbstdarstellung und Repräsentation – sichtbar unter anderem im Bau- und Wohnstil dieser Zeit.
Der wirtschaftliche Boom fand schließlich mit dem Börsenkrach 1873 ein abruptes Ende. Das Versprechen vom Reichtum wandelte sich in Angst vor Armut und sozialem Abstieg. Der entstandene Gründerzeitstil überdauerte dennoch die etwa 20-jährige wirtschaftliche Stagnation bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, als er vom Jugendstil abgelöst wurde.
Eine Begleiterscheinung der Industrialisierung war die Urbanisierung: Menschen zogen zunehmend in Städte, um dort Arbeit zu finden. Das führte zu einem riesigen Wohnungsbedarf. Während die ärmeren Fabrikarbeiter in einfachen Mietskasernen unterkamen, wohnte das gehobene Bürgertum in mehrstöckigen Stadthäusern mit aufwendig dekorierten Fassaden.
Es wurden ganze Stadtviertel mit Mietshäusern dieser Art aus dem Boden gestampft. Für die Oberschicht der Gesellschaft entstanden parallel Quartiere mit Stadtvillen. Repräsentative Bauten wie Theater, Ratshäuser und Bahnhöfe demonstrierten auf architektonische Weise den Wohlstand dieser Zeit.
Die damals entstandenen Bauten prägen heute noch das Erscheinungsbild vieler deutscher Städte. Auch wenn vielzählige Gründerzeitviertel im zweiten Weltkrieg stark zerbombt wurden, gibt es noch ganze Straßenzüge mit Gründerzeithäusern. Die derzeitig zu beobachtende Gentrifizierung findet beispielsweise fast ausnahmslos in den Gründerzeitvierteln statt.
Kunsthistorisch bezeichnet man den prägenden Stil der Gründerzeit als Historismus. Das heißt nichts anderes, als dass Elemente vergangener Stile wieder aufgegriffen und miteinander kombiniert wurden. Durch die parallele Verwendung und sogar Vermischung verschiedener Stile ist auch vom Stilpluralismus oder Eklektizismus die Rede. Im Historismus wurden insbesondere die Epochen Gotik, Renaissance und Barock zitiert. Der Sinn hinter der Bezugnahme auf historische Epochen war vor allem, die Bedürfnisse des Bürgertums nach Repräsentation zu erfüllen.
Die augenfälligsten Merkmale des Historismus sind die prachtvollen, aufwendigen Ornamente an den Außenfassaden der Häuser. Ebenso zieren Stuckelemente Decken, Wände und Treppen der Innenbereiche. Es sind vor allem diese üppigen Stuckelemente innen und außen, die den Gründerzeithäusern ihren Charme geben und ganze Siedlungen erstrahlen lassen.
Anders als heute wurde in der damaligen Bauplanung noch keine Zuordnung der Zimmer zu Schlaf-, Kinder- oder Wohnzimmern vorgenommen. Deshalb sind die Räume in Gründerzeitwohnungen in der Regel gleich groß und ähnlich beschaffen. Das ermöglicht heute eine flexiblere und lebendige Nutzung der Wohnungen. Besondere Vorzüge vieler Wohnungen sind kleine Erker oder Veranden mit Ausblick auf die Straße oder den Garten.
Durch zwei Weltkriege zerstörte Dachstühle, zahlreiche, teils falsche Umbau- und Sanierungsmaßnahmen und ein über die Jahre hinweg verändertes Wohnverhalten führen zu Substanzschäden der damals benutzten Baustoffe. Tragende Balkenkonstruktionen können wegfaulen und die Statik massiv beeinträchtigen. Feuchte Kellerwände sorgen dafür, dass eine hochwertige Nutzung ohne die entsprechenden Sanierungsmaßnahmen nicht stattfinden kann.
Viele bei Luftangriffen in den Kriegsjahren beschädigte Dächer wurden in der Nachkriegszeit möglichst schnell und kostengünstig überbaut, aber nicht ordnungsgemäß repariert. Zudem fehlte während dieser Zeit wie auch während Wirtschaftskrisen oft das nötige Geld, um in der kalten Jahreszeit für ausreichend Wärme zu sorgen. Dadurch kühlten die Häuser zu lange aus und die vorhandenen Holzteile in den Außenwänden konnten nicht ausreichend vor Feuchtigkeit geschützt werden.
Für die Konstruktionen der Holzbalkendecken wurde überwiegend Schnittholz verwendet. Die Balkenköpfe wurden auf bzw. in das massive Mauerwerk eingearbeitet. Schon zu damaliger Zeit war bekannt, dass ein belüfteter Balkenkopf gut gegen Fäulnis geschützt ist. Durch Beschädigungen drang jedoch Feuchtigkeit und Nässe ein und bis dato geschützte Bauteile wurden anfällig für holzzerstörende Pilze wie den Echten Hausschwamm. In diesem liegt eine große Gefahr für den Wert einer Immobilie: Der Echte Hausschwamm kann unter gewissen Feuchte-, Temperatur- und Lichtbedingungen lange Zeit im Verborgenen wachsen – nicht zuletzt, da er im Holz auf keine externen Feuchtequellen mehr angewiesen ist.
Weiterhin führte der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommene Dämm-Boom zu Problemen in Gründerzeithäusern. Da sie von außen schlecht gedämmt werden können, ohne die schönen Außenfassaden zu ruinieren, wurde begonnen, von innen zu dämmen. Dadurch kann das massive Mauerwerk allerdings keine Strahlungswärme mehr aufnehmen und speichern und folglich nicht mehr trocknen. Das sogenannte Backofenprinzip der Häuser wird durch Dämmung aus der Funktion genommen. Ähnliche Probleme entstehen durch neuartige Heizsysteme über Konvektion und zu dichte Fenster, welche die natürliche Kondensationsfähigkeit mindern. Viele herkömmliche Sanierungsmaßnahmen der modernen Zeit lassen die ursprüngliche Funktionsweise von Gründerzeithäusern außer Betracht.
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